Was bedeutet für Dich das Wort „Wildnis“?
Wildnis bedeutet für mich in erster Linie Natur. Sie besteht also nicht zwingend aus einer endlosen, menschenleeren Weite. Was wir auf einem Streifzug durch den Wald alles entdecken und erleben, steigert sich ja nicht proportional mit der Größe des Gebiets.
Aber selbst in der Stadt geht es ziemlich wild zu: Wir Menschen haben vielerorts Städte und Straßen in die Wildnis gebaut, haben sie „urban“ gemacht. Aber sie ist deshalb ja nicht gänzlich verschwunden. Wildnis ist kein Paralleluniversum. Auch in Städten leben Wildtiere, stehen Bäume und wachsen Wildpflanzen. Wenn wir unseren Blick dafür schärfen, werden wir staunen, was wir alleine auf einer einzigen Gassirunde mit unserem Hund alles entdecken.
Ich finde, dieses Bewusstsein ist sehr wichtig. Es hilft uns, uns wieder mit der Natur zu verbinden. Sie ist schließlich unsere alte Heimat – und die des Hundes. Nur im Gegensatz zu uns nimmt er die Natur nach wie vor sehr intensiv wahr. Wir Menschen dagegen scheinen uns irgendwie ausgeklinkt zu haben.
Das finde ich übrigens sehr interessant: Wir alle haben irgendwie den Wunsch, eine möglichst enge Bindung zu unserem Hund herzustellen. Da wäre es doch eigentlich naheliegend, sich auch der gemeinsamen Herkunft wieder mehr bewusst zu werden!
Hat sich durch die Ausbildung zum Wildnispädagogen und Tracker Dein Blick auf Hunde verändert?
Verändert würde ich nicht unbedingt sagen. Ich denke, ich bin wieder bei mir angekommen. Ein Analysieren des Verhaltens im klassischen, tierpsychologischen Sinne findet bei mir kaum noch statt. Vielmehr sehe ich in jedem Mensch-Hund-Team in allererster Linie das, was sie von Natur aus sind: zwei Seelen, die einen gemeinsamen Ursprung haben und Seite an Seite durchs Leben gehen.
Das bedeutet natürlich nicht, dass ich Bereiche wie Hundetraining, -coaching oder tierpsychologisches Arbeiten für überflüssig oder gar falsch halte! Ich habe nur erkannt, dass andere das weitaus besser können und ich einem anderen Pfad folgen sollte.
Inzwischen habe ich einen anderen, natürlicheren Blickwinkel. Dazu gehört sicher auch der Bereich Intuition. Sie hat ihren Ursprung ebenfalls in der Natur und kann uns Hundehaltern eine große Hilfe sein.
Menschen haben sicher unterschiedlichste Gründe, ihr Leben mit einem Hund zu teilen. Eine Motivation könnte die Verbindung durch den Hund zur Natur sein. Was denkst Du?
Das sehe ich auch so. Viele Menschen sehnen sich nach Natur, ohne dass es ihnen vielleicht bewusst ist.
Durch den Hund werden wir animiert, vermehrt nach draußen zu gehen. Vermutlich würden das viele von uns ohne ihre Vierbeiner nicht so oft tun.
Vielleicht auch aus der Befürchtung heraus, dass ihr Umfeld das negativ bewerten würde.
Es ist ja so:
Gehen wir unter der Woche und mitten am Tag mit dem Hund spazieren, sind wir verantwortungsvolle Hundehalter. Tun wir dies ohne Hund und dann auch noch regelmäßig, müssen wir damit rechnen, schief angeguckt zu werden. Schließlich ist vermeintliches Nichtstun nur was für Alte, Kranke oder kleine Kinder. Unsere Gesellschaft mit ihrem leistungsorientierten Denken hat da ganze Arbeit geleistet.
Wie kann uns die Natur in unserer Beziehung zum Hund unterstützen?
Wenn wir uns wieder mit der Natur verbinden, beginnen wir sehr schnell, auch aufmerksamer für unsere alltägliche Umwelt, uns selbst und unseren Hund zu sein. Wir nehmen Dinge differenzierter wahr und bewerten Situationen anders, weil unsere natürlichen Sinne wieder aktiviert werden. Das macht sich natürlich auch im Zusammenleben mit unserem Hund bemerkbar.
Da wäre zum Beispiel die Intuition, die ich bereits ansprach. Sie half uns Menschen schon zu einer Zeit, in der unser Sprachzentrum noch gar nicht entwickelt war. Das ist der Grund, warum sie in Form von Gefühlen und nicht in klaren Gedanken, also Worten, zu uns spricht.
Intuition kann uns in unserem Alltag als Hundehalter enorm helfen. Zum Beispiel auf der Hundewiese, wo es vielleicht nach „Ärger riecht“ und wir infolgedessen besonders wachsam sind. Oder beim Tierarzt, der uns mehrere Optionen zur Behandlung unseres Vierbeiners vorstellt.
Aber Natur kann noch mehr. Hier finden wir auch Antworten und Lösungsansätze, wenn irgendetwas nicht so gut läuft und wir uns einen Rat oder eine Entscheidungshilfe wünschen. Das geschieht oft durch Synchronizitäten, also Ereignisse in der Natur, die wir auf unsere persönliche Situation übertragen können und somit inspiriert werden, Lösungen oder Antworten zu finden.
Unterstützt Du Hundehalter*innen in dieser Fragestellung?
Ja, das mache ich sehr gern. Aktuell sitze ich an der Planung für das kommende Jahr.
Geplant sind Dinge wie Vorträge, Workshops, aber auch Einzelcoachings.
Durch „Du weißt schon, was ich meine, dieses Ding mit „C““ ging`s in diesem Jahr bei mir ziemlich drunter und drüber. Meine Planung wurde ordentlich durcheinandergewirbelt und ich musste recht viel improvisieren. Aber vermutlich ging das jedem von uns so.
Gibt es ein ganz besonderes Erlebnis mit Deinen Hunden in der Natur, das Du mit uns teilen magst?
Ich erlebe nahezu jeden Tag etwas Besonderes oder Schönes. Kleine Abenteuer oder bezaubernde Momente. Ob eine Hirschkuh, auf die mich mein Hund aufmerksam macht, eine Tannenmeise, die uns mit ihrem Ruf warnt, kurz bevor ein riesiger Uhu vollkommen geräuschlos über uns hinwegfliegt, oder ein Hase, der verträumt in der Abendsonne döst und uns gar nicht bemerkt.
Der Zauber solcher Erlebnisse liegt meist darin, dass man sie gemeinsam mit seinem Hund erlebt. Es muss also nicht immer „das ganz große Kino“ sein. Wobei es das da draußen natürlich auch gibt.
Zum Beispiel, als wir einer Wolfsspur folgten und uns plötzlich Isegrim wortwörtlich über den Weg lief. Kurze Zeit später mussten wir feststellen, dass wir mitten in das Rendezvous-Gebiet eines Rudels geraten sind. Das Rendezvous-Gebiet ist sozusagen das Wohnzimmer einer Wolfsfamilie. Dummerweise hatte unser Erscheinen zur Folge, dass wir auch die Welpen voneinander trennten. Wir zogen uns natürlich sofort zurück, um die junge Familie nicht weiter zu stören.
Lieber Raoul, ich danke Dir von Herzen für dieses wundervolle Interview.
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